Ich gehöre zu den Schachsenioren, die im Laufe ihrer fast 50 jährigen Karriere eine Unmenge an Schachbüchern und natürlich auch CDs und DVDs angestapelt hat. Schwerpunkt Eröffnungen.Als Adoleszent immer auf dem Sprung eine vorbereitete Eröffnungsfalle (Snosko – Borowski) auszupacken, später – gereift (?) ein solides Programm zu lernen, um die Anfangsphase ohne größere Positionsmängel zu überstehen. Quantitativ bin ich Virtuose, habe fast alles ausprobiert und bin immer noch auf der Suche nach meinem ultimativen Eröffnungsprogramm. Was ich allerdings nie in Erwägung gezogen habe, ist die ENGLISCHE Eröffnung, die ich beidfarbig zutiefst verabscheue.
Alle Versuche (als Schwarzer) abzutauchen in einen Altinder oder auch in nebulöse Holländisch – Variationen scheiterten immer wieder an ungenügendem Positionsverständnis, während meine Gegner leichtfüßig ihr Programm abspulten. Ob Turnierpartie, Blitz, Fernpartie oder Bullet, ob Einzelmeisterschaft oder Mannschaftskämpfe …Achillesferse gerissen.
Vor einigen Jahren erfuhr ich den wahren Hintergrund für diese traumatische Behinderung:
Als Buchhändler in einer kleinen Gemeinde, der nebenbei auch Kulturveranstaltungen in seinem Laden organisiert, hatte ich 2017 den Kabarettisten MARCO TSCHIRPKE zu einer musikalischen Lesung überreden können („Frühling,Sommer,Herbst und Günther“). Die Gäste und auch ich waren von seinem Wortwitz und seinen humoristischen Pianoeinlagen restlos begeistert und der vortreffliche Wein rundete das offizielle Programm angemessen ab.
Nun hatte der Künstler beim Apres – Kartoffelsalatessen ein Bild an der Wand entdeckt, das den Schachneurotiker darstellt. Angenehmes Geplauder über Schach und Kunst und Wahnsinn und Genie und weißderteufel , wer kann sich noch erinnern? Tschirpke jedenfalls wollte unbedingt eine Partie mit mir spielen („mit einem richtigen Schachspieler“!) Wir bewegten uns in mein „Schachzimmer“, wo ein antiker Schachtisch – allzeit bereit – stand. Wir saßen uns in bequemen Clubsesseln gegenüber , wie ich es nur aus alten Schwarz-Weiß – Filmen kenne. Es fehlte lediglich der Kamin und Tabakdunst… Wir spielten 2 Partien und parlierten über die wichtigen Dinge des Lebens und lachten entsprechend…Fazit: Er spielte recht gut, jedenfalls besser als ich am Klavier.
Nun kommen wir zum eigentlichen Thema.
Tschirpke schob leise die Figuren ineinander und stellte plötzlich eine glasklare Frage:“ Kennen Sie eigentlich die ENGLISCHE ERÖFFNUNG ?“Oh, ich erschrak. „ Ja, ein wenig , spiele sie allerdings nie!!Da stand er auf einmal auf , nahm Haltung an und sprach:
ENGLISCHE ERÖFFNUNG An einem Juninebeltag Sind über die Atlantikwogen Bei sanftem Wind und Wellenschlag mit Kurs Quebec dahingezogen Drei gut französische Fregatten, Die ihr Geschwader verloren hatten. Dann teilt die Trübe sich.Es bricht Der Nebel auf wie in zwei Wände. Es öffnet strahlend sich die Sicht Aufs ozeanische Gelände. Und plötzlich liegt ganz klar und nah Die ganze englische Flotte da. Nun ja, man trifft sich nicht nur gern. Denn George und Louis zeigen gleiche Besitzbegier nach jenem fern und nahen Vizekönigreiche. Man grüßt knapp nach den Anstandsregeln Und will ansonst vorübersegeln. Da – Linienschiff für Linienschiff Dreht bei und zeigt die breite Seite, Als ob ein Artillerieangriff Im Todesernst sich vorbereite. Der Kapitän von der „Alcide“ Er denkt: Ich denke, es herrscht Friede. Doch ist es wahr: geraume Zeit Sind wir auf See, fast vierzehn Wochen, Am Ende ist Feindseligkeit Zu Haus inzwischen ausgebrochen. Er greift zum Sprachrohr: Haben wir Krieg oder Frieden, Kavalier? Dort, achtern auf der „Dunkirk“,steht Der Kapitän auf seinem Flecke, Schreit:Frieden, Frieden, Sir! Und dreht den Trichter zum Kanonendecke und fügt in echt altenglischer Ruh Das Kommando: Feuer! Hinzu. Der Krieg, der siebenjährige, so ging er an, von diesem Platze. Und jeglicher seitherige Eröffnet mit demselben Satze. Man lädt. Und einer brüllt vom Steuer: Frieden, Frieden – Feuer! (Ergänzung: Fand statt im Juni 1755. Die drei französischen Kauffahrer hießen die „Alcide“, die „Lys“ und die „Royal Dauphin“) zitiert aus: Peter Hacks „Hundert Gedichte“ - Eulenspiegel Verlag