„Etwas Besseres als den Tod findest du überall…“

Für mich ist ein Open-Turnier der Inbegriff von Urlaub: Abdriften in eine Ersatzwelt, Zurücklassen der Familie (also auch Urlaub für sie), Pollenschutz, Sonnenschutz, Nachbarnschutz usw… Da mir dies nur maximal einmal pro Jahr möglich ist, bin ich natürlich in der Regel "untrainiert", schwach, unsicher, kurzum grundsätzlich Außenseiter: Ein Jockey im Basketballfeld.

So erlebt auch letztes Jahr am Niederrhein, wo ich schon frühzeitig auf einen ELO-starken ( 2250) und auch körperlich kräftigen Athleten traf, der sich zudem auch noch beim Nachdenken weit übers Brett beugte.Ich wagte weder über noch unter dem Brett ( er trat natürlich auch entsprechend "über") Paroli zu bieten, setzte mich seitlich, die Füße lässig schwebend parallel zur Tischkante, als würde ich in einem griechischen Hafen einen Ouzo trinken. Ich war wild entschlossen, mit dieser "beiläufigen" Art meine Harmlosigkeit zu signalisieren. Mein Vorbild in dieser Hinsicht IWANTSCHUK, der  gerne unnachahmlich ins Nichts schaut und dabei jeglichen Bodenkontakt verloren zu haben scheint.

Auf gehts. Ich reiche ihm das Schwämmchen, er drückt es aus und setzt die Uhr in Gang.

Weiß: ich                      Schwarz: ER

1.e4  c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.c3 ?! ( psychologisch erzwungen) dxc3 5.Sxc3 e6 6.Lc4 a6 7.a4 d6 8.0-0 Sge7 9.Sg5

                                                                                           

 

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich bekennen, dass ich diese Stellung schon mal auf dem Brett hatte ( Bullet – schach.de), wo ich klar durch Zeitüberschreitung gewonnen hatte.9…Sg6 10.f4 Le7 Bei diesem Zug, den ich so inständig erhofft hatte, dass ich zwischenzeitlich den Saal verließ, um Kaffee zu holen, klapperte auf den letzten Metern Tasse gegen Teller , Teller gegen Tasse, ich trank eilfertig erstmal ein Schlückchen  und setzte  dann behutsam ( beiläufig) das Geschirr ab.Ich musterte ( zum erstenmal) den Hünen, der offensichtlich zufrieden in sich ruhte. Immer noch bewegte ich mich auf den Spuren der (weinseligen) Bullet-Partie, wo ich schnurstracks in dieser Stellung 11.Sxf7 gezogen hatte. Yeah, that’s it!

 

11…Kxf7 Sehe ich einen arrogant-spöttischen Ausdruck über sein Gesicht huschen? Auf jeden Fall erscheint mir sein "selbstverständliches Nehmen" auf f7 leicht verletzend. Wo bleiben die hochgezogenen Augenbrauen, die Hautrötungen, das Gewippe der klobigen Füße? Niente. Er nimmt das (in)korrekte Opfer emotionslos  (gelangweilt?) an. Jetzt fehlt nur noch ein Blick zu seiner Armbanduhr …12.f5  Sge5  Irgendwie wird mir allmählich klar, dass ich mal wieder ein Strohfeuer entzündet habe. Das Nehmen auf e6 ist in jedem Fall stellungsberuhigend, erscheint mir völlig perspektivlos, meine Augen beginnen ängstlich zu flattern. Traue mich schon nicht mehr , die Kaffeetasse hochzuheben, weil die Gesamtmotorik an Stabilität verloren hat. Mein Gegner übt weiterhin "Dominanz aus"(G.Netzer), indem er einfach Ellenbogen und Füße platzgreifend implantiert. Seine stoische Ruhe, sein demonstratives Gelangweiltsein, seine offensichtliche Überlegenheit werden unerträglich. Meine Durchblutung könnte nicht intensiver sein.

Nachdem genügend Kiebitze (Aasgeier) um meine desolate Stellung gekreist sind und auch der ELO-Riese endlich mal aufgestanden ist, um genüßlich durch den Spielsaal zu wandern,kehrt langsam Ruhe ein.Ein angenehmes Gefühl der Resignation läßt mich aufatmen. Nur der Herrgott – oder ein guter Psychoanalytiker – weiß, warum ich plötzlich an die Bremer Stadtmusikanten denken mußte. "Etwas Besseres als den Tod findest du überall", sagte der Esel zum Hahn. – Also, noch mal in aller Ruhe die Stellung betrachten. Wie ein dem Kochtopf entflohender Hahn flatterten mir plötzlich ein paar Verrücktheiten durch den Kopf. 13.Dh5+

13…Kg8 Hier war ich schon wild entschlossen, die Dame zu geben.14.fxe6 g6 ! Natürlich. Hier allerdings übermannten mich die flatternden Gefühle. Ohne weitere Überprüfung schob ich einfach meinen Läufer nach h6. 15.Lh6 !!??!! Nach 15.gxh5 soll der Ausheber (?!) 16.Tf7!! folgen…

Ich stand auf, weil ich die Spannung nicht mehr aushalten konnte.Aus der Ferne beäugte ich die Szenerie. Weitere Aasgeier (Kiebitze) flatterten herbei.Ich fing an zu flanieren, zog immer engere Kreise um mein Brett, inhalierte die Turnierluft in vollen Zügen, grüßte auch entfernte Bekannte, legte die Hände auf den Rücken und schaute zufrieden in die (2.) Runde.

Mein Gegner schwitzte und hielt mit beiden Händen den Kopf zusammen, der ( so schien es mir) zu zerbrechen drohte. Die Zeit verging. Er schnaufte, sortierte seine klobigen Füße, reckte plötzlich seinen Hals nach oben, wie ein Schwimmer, der nach langem Tauchen um Atem bittet. Immer wieder nahm er Anlauf, vergrub sein Gesicht, dehnte und beugte sich tief in den Figurenpark. Ich war mir auf einmal sicher, dass meine Abwicklung tatsächlich wasserdicht war. Fast eine ganze Stunde kämpfte der Koloß mit der Stellung, um dann schließlich – erschöpft – 15…Sxc4 ??? zu spielen. A tempo folgte natürlich 16.Tf7  . Es gab eine offensichtliche Übereinstimmung zwischen meinem Gegner und mir: Wir waren uns einig, dass ich eindeutig  "auf Gewinn stand".

Natürlich zeigen die "engines", wie einfach Schwarz hätte gewinnen können.( Ich zitiere nichts, was jeder leicht nachschlagen kann). Auch jetzt ist ein Remis natürlich möglich… Doch…Schach zermürbt oder zerfetzt manchmal die Festplatte des wohlsortierten Schachspielers , wenn er aus dem Gleichgewicht geraten ist. So erklärt sich auch der letzte verhängnisvolle Fehler: 16…Lxe6 ???

Der Rest ist Schweigen: 17.Tg7+ Kf8 18.Txh7+ Ke8 19.Txh8+ Kd7 20. Txd8+ Txd8 21.Dd1 Th8 22.Lf4 usw. 1-0

Am nächsten Tag , als wir uns im Turniersaal begegneten, vermieden wir peinlich den gegenseitigen Gruß: Er aus Ärger, ich aus Scham…

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