„Michail Tal kommt im September zum UZ-Pressefest nach Duesseldorf „
Diese Nachricht ließ mich 1975 am Tisch meiner WG aufjauchzen. Mein Vorbild, dessen Partien ich jahrelang feinsäuberlich gesammelt und mehrmals staunend nachgespielt hatte, schickte sich an, nach Duesseldorf zu kommen, um dort zwei Simultanveranstaltungen auf den Rheinwiesen zu geben.
Meine linkslastigen Freunde, die mich bei Bedarf jederzeit in die Ecke drängen konnten, in dem sie meine Klötzchenschieberei als „kapitalistisches Kriegsspiel“ brandmarkten, nahmen diese Zeitungsnachricht gelassen zur Kenntnis. Für sie war das angekündigte Erscheinen von den Politbarden Degenhardt, Kittner und Wader natürlich wesentlich interessanter.
Dennoch, die Aussicht mit ihnen gemeinsam das große Fest zu besuchen ( jeder auf seine Art) unter dem großen Banner des Sozialismus, das hatte seinen linksromantischen Charme.
40 Amateure säumten die Tische in dem großen Schachzelt jenseits des Rheins. Da ich mich als erster angemeldet hatte, saß ich an „Brett 1“, d.h. am ersten Tisch der Manege. Als alle Plätze besetzt waren, erschien der Exweltmeister M.Tal in Begleitung eines Organisators , der eine kurze Ansprache hielt. Im Hintergrund, blass, hager, graubetucht, stand etwas verlegen ein junger Mann, der vom Redner ebenfalls vorgestellt wurde: Oleg Romanishin, frischgebackener Großmeister. Höflicher Applaus, kaum einer kannte ihn.
Der Zauberer aus Riga begrüßte Brett 1, ich erhob mich , machte einen „Diener“, vergaß völlig die Ablehnung meiner „guten Erziehung“ , und notierte 1.e4.Dann schaute ich versonnen meinem Idol hinterher, wie es die 39 anderen Bretter bediente.
In schneller Folge, zielsicher und souverän, erledigte Tal seine ersten Runden, ohne dass sein Rhythmus außer Tritt geriet. Nach etwa 2 Stunden jedoch hielt er plötzlich inne, als er mein Brett betrachtete. Er beugte sich vor, stützte seinen rechten Ellenbogen , Kinn in Hand, auf die Tischplatte und zögerte…
Sofort huschten einige Kiebitze herbei, die ein Drama witterten, oder gar einen schlimmen Unfall, den sie unmittelbar bezeugen könnten. Irgendetwas schien der Meister übersehen zu haben, der hastig an seiner Zigarette zog ( das machte er wohl auch in klaren Gewinnstellungen). Ich paffte entschlossen meine HB und hielt dagegen…
Schließlich entschied sich Tal für einen überraschenden Springerrückzug, der mir nicht erklärlich schien und schritt zum nächsten Brett. „Du stehst auf Gewinn“, flüsterte plötzlich eine aufgeregt-heisere Stimme hinter mir. Ich schraubte mich nach hinten, wo ich den Flüsterer sofort erkannte, Ein starker Düsseldorfer Spieler, der in der (damaligen) Bundesklasse spielte. Er sah wohl mein ratloses Gesicht und fuchtelte immer heftiger irgendwelche „Gewinnvarianten“ durch mein Gesicht. Je weiter sich der Meister entfernt hatte, desto eindringlicher die Appelle des Lokalmatadors, erst … a5, dann Td8 und dann Kh7 zu spielen mit klarem Endspielvorteil etc. Ich schlug immer wieder den Unteram des „Sekundanten“ nach oben, um mir freie Sicht aufs Spielfeld zu ermöglichen, doch dann stand da pötzlich wieder der Meister. Ich zog ohne Nachzudenken …a5, Tal antwortete postwendend Kh2 und wanderte weiter. „Siehst du, Siehst du, was hab ich gesagt?“ – „ihm fällt nichts mehr ein“ tönte triumphierend mein Berater, „jetzt noch schnell Td8, dann kann er einpacken“. Ich war fassungslos. Die Partie war mir – nachdem ich „auf Gewinn stand“ – völlig entglitten. Ferngesteuert von diesem unseligen Besserwisser verlor ich völlig mein Gleichgewicht.
Nach etwa 4 Stunden gab Tal auf, reichte mir freundlich-schmunzelnd die Hand und lächelte anerkennend.
Meine Scham war kaum zu bändigen..
Ich stand benommen auf und lief und lief …meinen treuen WG-Freunden in die Arme, die mich mächtig feierten…